Veröffentlichung: 10.10.2021


DIE HEGGE TRAUERT UM FRAU CHRISTINE

Nach schwerer Krankheit verstarb am 7. Oktober 2021 Frau Christine Ulrich, Mitglied der Hegge-Gemeinschaft seit 1953, in ihrem 96. Lebensjahr.

 

[bilderalbum]

Christine Ulrich ein Lebensbild


Christine Ulrich wurde 1926 in Halle an der Saale geboren und wuchs mit vier Geschwistern
auf. Die älteren Geschwister waren Berthold, der als Soldat im II. Weltkrieg zu Tode kam,
und Therese, die spätere Frau Therese von der Hegge. Die jüngeren Geschwister sind die
Zwillinge Michael und Anna; Michael wurde Priester und Pfarrer in Pirna und Dresden. Er
lebt mittlerweile hochbetagt in Bautzen. Die kleine Schwester Anna ist unsere heutige Frau
Anna, die bis heute auf der Hegge lebt und arbeitet.

Die Geschwister Ulrich verlebten eine glückliche Kindheit und Jugend in einem Elternhaus,
das den Kindern sowohl Geborgenheit und klare Wertevorstellungen vermittelte als auch
viel Gelassenheit und Freiheit bot zur Entwicklung der unterschiedlichen Begabungen der
Kinder.


Dieses Elternhaus stattete Christine wie auch ihre Geschwister mit ungewöhnlicher innerer
Stärke, mit Mut, Lebenswillen, Entschiedenheit und Widerstandskraft aus, um die Traumata
des II. Weltkriegs ohne seelischen Schaden tragen und überwinden zu können. Wir würden
hier heute von Resilienz sprechen.


Christine erkrankte früh an Kinderlähmung, was sie zeitlebens beim Laufen beeinträchtigte;
zugleich stählte diese Behinderung ihre Belastbarkeit und Zähigkeit, mit deren Kraft sie viele
Hindernisse überwand und Probleme erfindungsreich meisterte.


1944, mit 18 Jahren, legte sie das Abitur am AugustHermannFranckeLyzeum in Halle ab
und wurde unmittelbar danach als Hilfsschlosser zum Arbeitseinsatz kriegsverpflichtet.

Dabei gelang es ihr, für ihre Schwester Therese als Verlobungsgeschenk eine Kehrschaufel
herzustellen!


1945 begann sie ihre Ausbildung zur Kinder und Säuglingsschwester, die sie 1947 mit dem
Examen abschloss. Unmittelbar darauf folgte ihr erster beruflicher Einsatz: Ein Pfarrer in
Delitzsch hatte sein Pfarrhaus in den Nachkriegswirren kurzerhand in eine Art Not
Kinderheim verwandelt und machte es sich mit seiner Schwester und Christine zur Aufgabe,
25 30 Flüchtlings und Waisenkinder aufzunehmen und notdürftig zu betreuen, diesen halb
verhungerten, verwahrlosten und entwurzelten Kindern unter den harten, kargen
Nachkriegsverhältnissen wenigstens provisorisch ein Obdach, Essen, Kleidung und äußere
Sicherheit zu geben.


Von 1949 bis 1953 arbeitete Christine bei verschiedenen Ärzten in Halle als sogenannte
„Sprechstundenschwester“.


Parallel zu ihrer beruflichen Tätigkeit prägte ihr Einsatz in der katholischen Jugend ihr Leben.
Katechetischer Unterricht bei ihrem damaligen Vikar und späteren Bischof Hugo Aufderbeck
stattete sie und ihre Generation mit einem unkompliziert aufgeklärten Zugang zu Bibel,
Glaube und Kirche aus, der Christine und ihren Mitstreiterinnen eine tragfähige, auch
intellektuell verantwortbare Glaubensbasis gab, die den Widerfahrnissen des ganzen Lebens
standhalten sollte.

Viele Jahre wirkte sie in ihrer Freizeit als Pfarrjugendhelferin, mit Wallfahrten zum
Petersberg, auf die Huysburg, 1950 zum Katholikentag in Berlin.

Am 15. Juni 1953 entschloss sie sich zur Flucht aus der DDR, wobei sie in Berlin mitten in den
Aufstand vom 17. Juni hineingeriet und diesen hautnah miterlebte.

Über verschiedene Stationen erreichte sie am 10. November 1953 schließlich die Hegge.


Sie begann am Martinstag ihr Noviziat und widmete von diesem Moment an ihre ganze
Einsatzkraft, ihre Kreativität und den Reichtum ihrer Persönlichkeit dem Werk der Hegge.


Frau Christine war äußerst vielseitig mit praktischen Begabungen ausgestattet und war sich
für nichts zu schade. Eine hohe Dienstbereitschaft verbunden mit souverän selbständigem
Denken und einer unbändigen Lebensfreude bis hin zum Schalk prägten ihren Charakter.


Auf der Hegge waren ihre wichtigsten Einsatzorte die Sakristei und Pflege der Kapelle, der
Empfang der Gäste („Pfortenschwester) und ihr geliebter Garten.

Ihr Vater lehrte als Architekt seine Kinder die genaue Naturbeobachtung. Christine war hier
seine besonders gelehrige Tochter. Das kam über Jahrzehnte dem Garten und Park der
Hegge zugute, der ihr Lieblingsort war. Sie war Gärtnerin mit Leib und Seele und verfügte
über differenziertes Erfahrungswissen.

Als Pfortenschwester konnte sie auch ihre kommunikative Begabung in den Dienst der
Hegge stellen. Oft haben wir in Konventsgesprächen festgestellt, dass Christine mit den
meisten Namen unserer Gäste auch Gesichter und Geschichten verbinden konnte.

Sie kannte alle von der Anreise her und verfügte über ein gutes Namensgedächtnis.


Als Pfortenschwester musste sie Gästen auch Rat geben, wenn diese akut in Not geraten
waren und aufgelöst zur Rezeption gelaufen kamen: Wenn sie etwa ihren Schlüssel oder
Schmuck vermissten, ihren Geldbeutel verloren hatten, der Hund auf dem HeggeGelände
entlaufen war, usw.

Christine konnte hier stets trösten und helfen mit einer klaren Empfehlung: Spenden Sie der
Hegge oder spenden Sie der Kinderhilfe Afghanistan, einem Kinderhilfswerk der Familie Erös,
dann werden Sie Ihren Schmuck oder Geldbeutel wiederfinden, auch der Hund wird
wiederkommen. Und tatsächlich: Dieses Rezept hat immer funktioniert!


Ihre letzten Jahre, seit Sommer 2015, lebte sie im Seniorenheim St. Antonius in Brakel.

Diese 6 Jahre wurden nochmal ein eigener, echter Lebensabschnitt. Christine konnte die
neuen Umstände dort gut annehmen, akzeptieren und sich einfügen. Sie war dankbar,
zufrieden und immer munter und fröhlich, wenn wir sie besuchten.

Ausdrücklich danken wir dem PflegeTeam des Antoniusheimes für die langjährige
umsichtige Betreuung und Fürsorge.


Ihr letzter Besuch auf der Hegge war am 13. Juni 2021. Er galt vor allem ihrem geliebten
Garten, durch den sie nochmal gefahren wurde und von dem sie sich verabschieden wollte.


Liebe Christine, wir wünschen Dir, dass Du nun nach der Anstrengung Deiner schweren
Krankheit den himmlischen Garten erreicht hast, und ich stelle mir vor, dass Du dort
schmerzfrei und erlöst in der Hängematte liegst.



Oberin Dorothee Mann, 15.10.2021