34 Ärztinnen und Ärzte haben sich am Wochenende vom 21.-23. November 2025 zur alljährlichen medizinethischen Tagung der HEGGE versammelt. Thema war die Priorisierung im Gesundheitswesen: Was bedeuten die knapper werdenden Ressourcen für die medizinische Versorgung?
Zu Tagungsbeginn am Freitag Abend spannte der ehemalige Richter am Bundessozialgericht Prof. Dr. Ulrich Wenner den verfassungsrechtlichen Rahmen und gab sozialrechtliche Einblicke in das Thema. Er zeigte die besondere Verrechtlichung in Deutschland in Fragen der Gesundheitsfürsorge auf. Es gibt in Deutschland einen Heilbehandlungsanspruch (§27 SGB), den es in anderen Ländern der EU in dieser Form nicht gibt. Das Gegenstück dazu sei die Krankenversicherungspflicht. Jeder Patient hat deswegen individuellen Anspruch auf Heilbehandlung, und nach geltendem Recht gibt es auch keinen Kostenvorbehalt. Da diese Rechtslage so nicht finanzierbar ist, muss auf anderen Ebenen das Leistungsniveau abgesenkt werden, muss es Leistungsausschlüsse geben, die Wenner beispielhaft aufzeigte. Das Problem der Priorisierung stellt sich besonders scharf in der Transplantationsmedizin aufgrund des Mangels an Spenderorganen, in pandemischer Lage aufgrund der Knappheit von Behandlungskapazitäten, bei der Terminvergabe, u.a.m. Priorisierung ist gesamtgesellschaftlich auch zulässig und notwendig, zumal die Gesundheitsversorgung in Konkurrenz mit anderen staatlichen Aufgaben steht, z.B. Sicherheit, Bildung und Wirtschaft. Im Weiteren zeigte Wenner die verfassungsrechtlichen Grenzen von Leistungsbeschränkungen.
Referent am Samstag Vormittag war Prof. Dr. Christof Schenkel-Häger, Arzt, Krankenhausmanager und derzeit ärztlicher Direktor einer großen Klinik in kirchlicher Hand. Er entwickelte im Gespräch mit den Teilnehmer*innen eine Szenarioanalyse zum Gesundheitswesen 4.0 unter dem Eindruck knapper werdender Ressourcen. Dabei bezog er aktuelle und zukünftige Herausforderungen ein, die auf das Gesundheitswesen Auswirkungen haben bzw. auf die das Gesundheitswesen reagieren muss: z.B. Demografie und Multi-Morbidität, Medizinischer Fortschritt, Technischer Fortschritt, Qualitätsanforderungen, Fachkräftemangel, Krisen, Pandemien und Katastrophen, Anforderung der Nachhaltigkeit, Investitionsstau in den Kliniken, das zunehmende Auseinanderklaffen der Kosten- und Erlös-Schere. Dies alles erzeuge großen Druck auf das Gesundheitssystem und erfordere eine permanente Rationierung und Ökonomisierung. Seine Empfehlungen (u.a.): Health in All Policies, neue Techniken konsequent nutzbar machen, innovative Modelle etablieren, Entbürokratisierung, regionale Versorgungsformen entwickeln, die Lebensgrundlagen für die Menschheit retten.
Am Samstag Nachmittag sprach Dr. Lilli Grell, Ärztin, Sozialmedizinerin und ehemalige Mitarbeiterin des Medizinischen Dienstes sowie des G-BA. Sie klärte zunächst über die Aufgaben des MD und des G-BA auf. Der MD prüft nach gesetzlicher Vorgabe, ob medizinische Leistungen in Art und Umfang angemessen sind und ordnungsgemäß abgerechnet werden.
Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt „die zur Sicherung der ärztlichen Versorgung erforderlichen Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten“.
Sie nannte als große Probleme in Deutschland die Medikalisierung von Bagatellen, die Segmentierung der Player im Gesundheitsdienst, weiterhin die hohen Arbeitskosten, die hohen Sozialabgaben und Steuern, hohe Gesundheitsausgaben. Es bestehe kein absoluter Mangel an Therapeuten, aber hohe Teilzeitquoten, insgesamt würden in Deutschland so viel Arbeitsstunden geleistet wie nie zuvor. Um das System aufrecht halten zu können, sieht sie folgende Möglichkeiten: Erhöhung des Steuerzuschusses, Erhöhung der KK (Zusatz-) Beiträge, Wiedereinführung der Praxisgebühr, Leistungen streichen, Delegation von Leistungen (z.B. Impfungen in Apotheken, bestimmte Gesundheitsdienstleistungen bei Drogerieketten wie Augenscreening, Hautanalyse, Online-Arzt), Primat der hausärztlichen Versorgung.
Prof. Dr. Alexander Dietz, evangelischer Theologe, Ökonom sowie Medizin- und Wirtschaftsethiker, zeigte den Weg von abstrakten ethischen Standards hin zu einer prozesshaften Begleit- und Sorgeethik. „Ethik ist keine Bescheidwissenschaft, die eindeutige Antworten und einfache Faustformeln liefert, sondern eine Begleitwissenschaft“, sagte Dietz. Sie orientiere sich an medizinethischen Kriterien (Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Nichtschaden, Wohltun), am Menschenbild (Fragilität und unbedingte Würde) und entlaste nicht vom Dilemma des konkreten Einzelfalls. Die Ethik könne nicht verhindern, dass Leid entsteht, welches artikuliert und bestanden werden muss. Nur im Diskurs zeige sich der jeweils angemessene Weg. Während die traditionelle Ethik sich an abstrakten Gerechtigkeitsgrundsätzen orientiert und sich wenig für das konkrete Leid interessierte, ginge es der Sorgeethik um eine Würdigung der Komplexität der konkreten Leiderfahrung. Mit Rückgriff auf eine Formulierung Dietrich Bonhoeffers ermunterte Dietz dazu, sich bei ethischen Entscheidungen zuweilen „die Finger schmutzig machen zu müssen“, weil es keinen „sauberen Weg“ gäbe. Darauf wurde in der Diskussion immer wieder dankbar Bezug genommen.
Dr. Ulli Polenz, der diese Tagungsreihe seit 1999 moderierte, wurde auf seinen Wunsch hin am Tagungsende feierlich verabschiedet. Nähere Informationen dazu finden Sie hier.
Die Gesprächsleitung der Ärztetagungen wurde ab sofort von Dr. Gabriele Voß, Paderborn, übernommen.




















