Kann Aufklärung schaden?
Vom 20. bis 22. November 2015 fand die diesjährige Ärztetagung auf der Hegge statt, zu der auch Juristen herzlich eingeladen waren. Sie stand unter dem Thema
KANN AUFKLÄRUNG SCHADEN?
Placebo – Nocebo – Aufklärungspflicht: Ärztliche Dilemmata nach dem Patientenrechtegesetz
Lic. theol. Dorothee Mann bei der Begrüßung der Tagungsteilnehmer
Prof. Dr. Salomon
Prof. Dr. Salomon
Prof. Dr. Salomon und Dr. Polenz
Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan und Lic. theol. Dorothee Mann
Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan
Prof. Dr. Ruth Rissing-van Saan und Dr. U. Polenz
Pausengespräche
Prof. Dr. M. Zenz
Lic. theol. Dorothee Mann, Die Hegge
Prof. Dr. M. Zenz und Dr. U. Polenz
Im Februar 2013 trat in Deutschland das Patientenrechtegesetz in Kraft. Es verpflichtet Ärzte noch mehr als bisher, ihre Patientinnen und Patienten umfassend und verständlich über alles aufzuklären, was für die Behandlung wichtig ist: die Diagnose, die voraussichtliche gesundheitliche Entwicklung, die angemessene Therapie, die Risiken, Chancen und Behandlungsalternativen. Hinter diesem Gesetz steht die Absicht des Gesetzgebers, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten zu stärken. Das Patientenrechtegesetz setzt so Standards sowohl auf dem Gebiet der Patientenaufklärung als auch im Bereich der Patienteneinwilligung.
Ein Problem im ärztlichen Alltag erwächst aus der Tatsache, dass Aufklärung nicht in allen Fällen förderlich ist. Nicht nur ängstliche Patienten neigen z.B. zur Entwicklung von Nocebo-Symptomen, eine negative Wirkung auf ein Scheinmedikament oder eine Scheinbehandlung oder eben einfach auf die Beschreibung einer möglichen Nebenwirkung. Die Bedingung für ihr Entstehen ist die Erwartungshaltung auf eine etwaige schädliche Auswirkung einer Therapie. So kann es für den Arzt zu einem ethischen Dilemma kommen: Einerseits ist er zur Aufklärung verpflichtet, andererseits läuft er Gefahr, gerade durch die Aufklärung seinem Patienten zu schaden und damit das ärztliche Gebot zu missachten: primum non nocere.
Worte sind eine mächtige Medizin, die häufig mehr bewirken können als Pillen und Tropfen. Sie können den Patienten beruhigen, zuversichtlich stimmen, die Heilung fördern, sie können aber auch ungewollt Symptome verschlimmern oder Beschwerden erst hervorrufen, auch wenn es dafür eigentlich keine objektivierbaren Gründe gibt. Noceboeffekte können „selbsterfüllende Prophezeiungen“ sein, d.h. unerwünschte, schädliche Wirkungen können ebenso wie hilfreiche Placeboeffekte durch Erwartungen oder durch verbale oder nonverbale Kommunikation verursacht werden. Placebo- wie Nocebophänomene sind im ärztlichen Alltag bekannt und werden seit geraumer Zeit in der medizinischen Wissenschaft verstärkt diskutiert. In der täglichen Praxis werden sie aber häufig vernachlässigt und übersehen.
Unsere interdisziplinäre Tagung wollte auf diese Probleme aufmerksam machen. Es wurde im Gespräch mit Fachleuten sowohl die medizinische als auch die rechtliche und ethische Dimension von Placebo und Nocebo – von Nutzen und Schaden – behandelt und u.a. folgenden Fragen nachgegangen: Darf man Patienten zu ihrem Nutzen unerwünschte Wirkungen einer Therapie verschweigen? Welche Auswege gibt es aus dem Nocebo-Dilemma? Welche Rolle spielt im Arzt-Patienten-Gespräch eine offene Kommunikation? Wie wichtig ist für den Patienten emotionale Sicherheit und Geborgenheit? Ist Placebo Betrug?
Die Teilnehmer der Tagung hatten Gelegenheit, mit folgenden Referenten intensive Gespräche zu führen:
Prof. Dr. jur. Ruth Rissing-van Saan, Bochum, von 1988 bis 2011 Richterin am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, von 2002 bis 2011 Vorsitzende Richterin des dortigen 2. Strafsenats.
Prof. Dr. med. Michael Zenz, Bochum, von 1986 bis zu seiner Emeritierung Professor und Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerztherapie am BG Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum, seit 2001 zusätzlich Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensiv- und Schmerztherapie an der Universitätsklinik Knappschaftskrankenhaus Bochum-Langendreer. 2003 bis 2007 Präsident der DGSS, 1994 bis 2003 Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, seit 2002 Vorsitzender der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät der RUB.
Prof. Dr. med. Fred Salomon, Lemgo, Studium der Evang. Theologie in Bethel, der Medizin in Göttingen, 1990 bis 2013 Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin am Klinikum Lippe-Lemgo, 1996 bis 2003 Ärztlicher Direktor des Klinikums Lippe-Lemgo, seit 2004 Mitglied des Prüfungsausschusses der Ärztekammer Westfalen-Lippe für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Lehraufträge für Ethik in der Medizin an den Universitäten Gießen, Ulm, Greifwald, u.a.
Der besondere Charakter dieser Tagung lag neben der Wissensvermittlung insbesondere darin, dass die Teilnehmer verschiedener Generationen – seien sie Medizinstudenten, praktizierende Ärzte oder solche im Ruhestand – über Grundfragen medizinischer Ethik, des ärztlichen Selbstverständnisses u.v.a.m. vertrauensvoll miteinander ins Gespräch kommen konnten.
Auszug aus dem Tagungsprogramm:
Freitag, 20.11.2015
18.00 h Tagungsbeginn / Abendessen
Begrüßung und Einführung durch Lic. Theol. Dorothee M a n n, Die Hegge
Prof. Dr. med. Fred S a l o m o n , Lemgo:
WAHRHEIT AM KRANKENBETT ODER BARMHERZIGE LÜGE?
Ethische Herausforderungen bei belastenden Diagnosen”
Samstag, 21.11.2015
Prof. Dr. jur. Ruth R i s s i n g – v a n S a a n :
DIE MEDIZINISCHE AUFKLÄRUNG:
IHRE RECHTLICHEN GRUNDLAGEN UND FOLGEN
Prof. Dr. med. Michael Z e n z , Bochum:
WARUM NICHT MEHR PLACEBO?
Prof. Dr. Michael Z e n z :
WARUM SO VIEL NOCEBO?
Sonntag, 22.11.2015
Prof. Dr. med. Fred S a l o m o n :
BEFUNDE UND BEFINDEN:
Psychische Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit als ethische Herausforderung
Die Gespräche leitete Dr. med. Ulli Polenz, Paderborn
Tagungsleitung: Dorothee Mann, Die Hegge